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AutorenbildAntje Hirt

Auf das Leben hören


Ich hatte eine kleine Auszeit. Von mir geplant und umgesetzt. Inzwischen kenne ich meine Grenzen sehr gut, bemerke im Alltag die roten Warnlämpchen und habe erlebt, dass mir am Abend vor der Abreise alles zu kompliziert erschien, das Packen lästig war und überhaupt es plötzlich einfacher schien zu Hause zu bleiben als zu verreisen. Ein sicheres Zeichen, dass es nötig war aus meinem Alltag auszubrechen!

Das kenne ich inzwischen und schaffe es mit mir selbst eine Verabredung zu treffen. Erstmal losfahren, einen Schritt in Richtung Auszeit gehen und dann jeweils neu bewerten, ob der Widerstand sich auflöst. Und das tut er in den meisten Fällen. Mit jedem Kilometer verändern sich meine Gedanken. Erst der Abstand schafft Raum für Neues.

Was ist es, vor dem ich zurückschrecke, obwohl ich doch ein paar Tage vorher überzeugt war, dass ich genau das brauche? Ist es die Angst davor was sich zeigt, wenn Raum entsteht? Die Befürchtung, dass nicht nur Neues, sondern vielleicht Altes oder Unbewusstes den Raum einnimmt? Oder ist es der Schmerz, der auftauchen könnte, wenn mir bewusst wird, wie eng der Raum geworden war?

Ich glaube Rückzug ist keine Realitätsflucht, sondern das Gegenteil. Es ist eine Konfrontation mit der eigenen Wirklichkeit.

Eine Flucht hingegen ist unser ständiges Streben nach Anerkennung, nach gesehen und geliebt werden. Dabei vergessen wir allzu oft, dass wir selbst uns nicht die Anerkennung schenken, die wir uns wünschen.

Indem wir dafür Raum schaffen, gehen wir in die Konfrontation mit unserer Wirklichkeit.


Schon die alten Zen-Meister fanden das Geheimnis des Lebens im Zähneputzen, im Gehen, im Sitzen und im "vor sich hin träumen".

Der 97jährige David Steindl-Rast nennt es einen enormen Luxus sich zurückziehen zu können und "vor sich hin zu träumen". Und er hat einen Satz gesagt, über den schon viele Denker, Psychologen und Resilienzforscher nachgedacht haben.

Er hat den Krieg erlebt. 1946 war er 20 Jahre und mehr seiner Freunde waren umgekommen, als noch gelebt haben. Trotzdem war er glücklich. Er begründet das damit, dass er den Tod ständig vor Augen hatte. Das hat ihn im Augenblick leben lassen. Es war ihm bewusst, dass der einzige Augenblick, den wir haben, der Gegenwärtige ist. Das ist auch der Einzige, in dem man glücklich sein kann.


Er sagt von sich, dass er ein Realist mit Hoffnung sein möchte. Dabei definiert er die Hoffnung nicht als etwas, was man sich vorstellen kann, sondern als Offenheit für Überraschung. Das Überraschende aber, ist immer etwas, was wir uns nicht vorstellen können. Ich persönlich finde diese Interpretation sehr tröstlich. Denn wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie es weitergehen soll, dann heisst das in seiner Weltsicht nicht, dass ich keine Hoffnung mehr habe. Ich kann in solchen Momenten voller Hoffnung sein, dass es weitergehen wird. Dass immer wieder Überraschungen kommen, die ich mir gerade nicht vorstellen kann.

Und deshalb fuhr ich los. In der vollsten Überzeugung, dass das Leben mir etwas Besseres schenkt, als ich mir vorstellen kann.


Aufs Leben hören und dem Leben antworten, heisst im Leben ein Gegenüber zu haben, mit dem wir in den Dialog treten können. Das macht uns zu Zuhörern. Und wenn mir das Zuhören schwerfällt, dann ist es Zeit für meine Auszeit, für wenig Worte und fürs hinhören.

Welche Geschichte erzähle ich mir eigentlich gerade? Welche Geschichte erzähle ich Anderen über mein Leben? Fühlt sich das stimmig an? An welcher Stelle habe ich überhört, was das Leben mir sagt?


Um dem Leben zu lauschen brauche ich unverplante Zeit. Zeit ohne Ansprüche, die von aussen an mich herangetragen werden. Zeit meinen eigenen Rhythmus zu spüren und ihm zu folgen ohne dass ihn jemand beurteilt. Auch nicht ich selbst. Das ist gar nicht so einfach, wenn doch sonst im Alltag scheinbar alles vom Pläne machen abhängt.

David Steindl-Rast sagt übers Pläne machen, dass man sie manchmal machen muss. Meistens geht es aber auch ohne. Wichtig für ihn sind die kleinen Schritte auf das hin, was einen am meisten freut. Deshalb stellt er sich 3 Fragen:


  1. Was würde mich wirklich freuen?

  2. Kann ich es?

  3. Wozu bietet mir jetzt das Leben Gelegenheit um auf das zuzugehen, was mich am meisten freut?


Planlos klingt das nicht. Es klingt nach Hingabe, nach einem grossen Lebensvertrauen. Es klingt danach jeden Augenblick hinzuschauen mit der Frage: Was schenkt mir das Leben eigentlich?


Irvin D. Yalom, ein US Amerikanischer Psychotherapeut und Psychiater stellt , aufgrund der Annahme, dass wir am Meisten unter Dingen leiden, die wir bereuen nicht getan zu haben, in seinen Sitzungen oft eine Verschlimmerungsfrage:

Wenn wir uns in 2 Jahren treffen, welche Dinge werden sie bis dahin angehäuft haben, die sie bereuen nicht getan zu haben?

Danach schaut er mit seinen Klienten in die erwünschte Zukunft mit der Frage:

Was können sie in den nächsten 2 Jahren tun, um so zu leben, dass sie nichts bereuen?


Ich bin dankbar für die 4 Tage, die das Leben mir schenkte, um ihm zuzuhören, um ganz bei mir zu sein und zu spüren, wie sich Enge auflöst. Ich bin mir selbst dankbar, die Energie für den ersten Schritt aufgebracht zu haben und die Geduld jeweils den nächsten Augenblick abzuwarten.


Leben ist Gabe und Aufgabe zugleich.

*Bruder David Steindl-Rast

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