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Abschied nehmen, Loslassen und Weiterlieben bei Demenz


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Liebe und Verlust: zwei Seiten einer Erfahrung

 

Für einen öffentlichen Vortrag setzte ich mich vertieft mit dem Thema Trauer auseinander. In diesem Prozess merkte ich, dass einiges von dem, über was ich da nachdenke, auf mein eigenes Leben zutrifft.

 

Dazu gebe ich ein kleines Alltagsbeispiel. 

Seit fast 20 Jahren bin ich verheiratet mit meinem Mann, welcher mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung lebt.

 

Irgendwann erzählte er mir, dass er nicht verstehen könnte, weshalb Menschen sich Blumen auf ihre Tische stellen. Etwas Lebendiges abzuschneiden um ihm anschliessend beim langsamen Sterben zuzusehen, das schien ihm zutiefst unmenschlich und verursachte geradezu körperliches Leiden. 

Ich hatte das noch nie so betrachtet. Und zu dem Gedanken: "Ah, interessant. Eine andere Perspektive." Gesellte sich der Gedanke: Ein weiteres Puzzleteil erhalten zu haben, um verstehen zu können, wie mein Mann "tickt".

 

Was mir damals nicht auffiel und sich gleichzeitig dennoch abspielte war:

Dieser Perspektivwechsel brachte eine wichtige Erkenntnis mit sich.

Ab sofort war ich eine Frau, deren Mann ihr niemals Blumen bringen würde.

Das gehörte aber damals zu meinen Vorstellungen von Glück und Partnerschaft. Vom Partner ab und an Blumen zu bekommen. 

Unbewusst wurde in mir ein Trauerprozess ausgelöst. Ich musste mich von meinem Bild, wie etwas zu sein hat, verabschieden. Unverhofft und ohne dass ich gefragt wurde, ob ich das will! 


Was ich damit sagen möchte:

Wir alle sind auf die eine oder andere Art trauerkompetent. Wir verabschieden uns dauernd von etwas, werden gezwungen etwas loszulassen. 

 

Weshalb hat das Leben das so eingerichtet? 

Ich glaube, ein Abschied von etwas dient immer dazu Platz zu schaffen für etwas Anderes.


Eine Frage taucht regelmässig auf, wenn ich mit Angehörigen von Menschen mit Demenz spreche: Ist Trauer die andere Seite von Liebe?

Ich erlebe, dass dort, wo Menschen lieben, sie in der Begleitung bleiben – egal was passiert, oft bis an ihre Grenzen und manchmal bis zum Schluss. In ihrer Liebe finden sie die Kraft, täglich Abschied zu nehmen. Sie finden Wege loszulassen – und trotz der Trauer, die darüber entsteht, nicht zu leiden, sondern den Weg gemeinsam zu gestalten.

Denn dort, wo jemand fehlt, den wir geliebt haben – ob plötzlich oder nach und nach –, ist Trauer ein Ausdruck dieser Liebe. Beides gehört zum Leben. Und die Tiefe von Trauer ist ähnlich, wie die Tiefe von Liebe.

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Definition

Trauer ist ein funktionaler Umgang mit unvermeidlichem Schmerz.

Dieser Schmerz entsteht, wenn etwas, das uns wichtig war, verloren geht. Wenn das Leben sich anders zeigt, als wir es erhofft hatten. Wenn Gewissheiten brüchig werden, Möglichkeiten sich schließen oder das Schicksal uns etwas zumutet, das wir nicht begreifen können.

Trauern heißt: sich diesen Schmerzen nicht zu entziehen, sondern sich ihnen zuwenden. Trauer ist das Anerkennen dessen, was wir uns nicht gewünscht haben – und was trotzdem ist. Sie ist Resonanz auf Verlust, auf das Ende von Möglichkeiten, auf das Ende von Gewissheit.

Trauern zu können, ist eine Voraussetzung, um mit dem Leben zurechtzukommen. Oder andersherum: Trauerarbeit nicht leisten heisst externalisieren und projizieren. Aber im Aussen Schuldige zu suchen oder seine Wut auf Andere zu projizieren heisst im Leiden gefangen zu bleiben. Denn Leiden entsteht, wenn wir dem Schmerz ausweichen wollen und gegen das Unvermeidliche ankämpfen – mit Fragen wie:

Warum ich? Warum jetzt? Warum so?


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Historischer Blick – warum unsere Gesellschaft Trauer so schwer aushält


Wir leben in einer Kultur, die mit Trauer Mühe hat. Nach dem Ersten Weltkrieg – als unzählige Menschen starben – lernten viele, ihre Gefühle abzukapseln, um zu überleben. Man sprach nicht über Verlust, nicht über Schmerz. Das war damals eine Überlebensstrategie. Gefühle zu zeigen galt als Schwäche. Diese Haltung hat das ganze 20. Jahrhundert geprägt. Man glaubte: Wer stark ist, „funktioniert“ weiter.


Ein Beispiel: Meine Mutter verlor 1967 ihr erstes Kind – meinen Bruder. Er lebte acht Stunden. Danach sagte man ihr nur: „Er ist gestorben.“ Sie durfte ihr Kind nie tot sehen. Es gibt kein Grab. Ein Jahr später sagte ein Arzt zu ihr: „Wenn Sie jetzt noch trauern, dann stimmt etwas nicht mit Ihnen.“

Das war Ausdruck einer Kultur, die Angst vor Trauer hatte –aus Angst, von der Vergangenheit überwältigt zu werden.

Und diese Angst wirkt bis heute. Unsere Gesellschaft tut oft so, als gäbe es eine Abkürzung durch die Trauer hindurch. Als ließe sie sich mit Effizienz und Terminkalender bewältigen –am liebsten in klaren Phasen, bitte nicht zu lang und möglichst ohne sichtbare Spuren. Doch gerade dieser Versuch, Trauer zu verkürzen, verlängert sie nur. Alles, was wir vermeiden, bleibt.


Nicht die Zeit heilt alle Wunden, der Mensch heilt sie. Barbara Bleisch


Auch wenn wir vielleicht irgendwann gelernt haben, mit unserer eigenen Trauer umzugehen, bleibt es eine besondere Herausforderung mit der Trauer Anderer umzugehen. Manchmal flüchten wir sogar, weil wir uns ohnmächtig fühlen.

Einige haben das schon am eigenen Leib erfahren, dass Menschen die Straßenseite wechseln, nicht zurück schreiben oder wegschauen, einfach aus Mangel an Handlungsoptionen. Dabei entsteht genau das, was Trauer so schwer macht: Einsamkeit. Freundschaften zerbrechen daran, Beziehungen verflachen, und Mitmenschlichkeit wird brüchig.

Gleichzeitig ist Trauer kein Privatproblem. Sie ist zutiefst menschlich und damit kollektiv. Jeder Mensch, der lebt, wird irgendwann trauern.

Doch wir haben die Trauer ausgelagert –in Therapieräume, auf Friedhöfe, in stille Schlafzimmer. Wir glauben zu wissen, wo sie hingehört. So wird der Trauernde zum „Opfer“ – nicht der Trauer selbst, sondern einer Gesellschaft, die es nicht aushält, nichts tun zu können. Die es nicht aushält, einfach da zu sein.

Dabei wäre genau das so notwendig: Hinschauen statt Wegsehen. Hinhören statt Schweigen. Mitfühlen, statt trösten.

Leiden entsteht nicht, weil wir trauern –sondern weil wir Trauer keinen Platz geben. Trauer will gesehen werden, geteilt, bezeugt und gewürdigt. Wenn wir das schaffen, wird sie zur Kraft, die verbindet –nicht zur Last, die trennt.

Wenn wir Trauernde sind, hören wir in Gesprächen oft die Antwort: «Das kenne ich» Eigentlich sollten wir an dieser Stelle den Mut haben zu antworten: «Nein, das kennst du nicht! Denn ich habe andere Kerben als du!»


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Über Trauern, Loslassen und Schmerz


Wenn wir also verstehen, dass unsere Kultur Trauer lange verdrängt hat, dann stellt sich die nächste Frage:

Was bedeutet Trauern wirklich – jenseits von Ritual, Zeitrahmen oder gesellschaftlicher Erwartung?

Wie fühlt sich Trauer an, wenn wir sie wirklich zulassen, nicht pflichtbewusst, sondern als Bewegung unseres Herzens?

Trauer ist kein Prozess des Vergessens oder Beendens, sondern ein Prozess des Umwandelns. Trauer ist eine Übergangsphase. Übergänge sind holprig im Gegensatz zum normalen Fluss des Lebens.


„Du musst loslassen“ – diesen Satz haben viele von uns sicher schon gehört. Vielleicht haben wir ihn auch schon selbst gesagt. Aber kaum jemand erklärt, wie das gehen soll. Oder was genau wir dabei eigentlich loslassen sollen.

Denn was heißt das eigentlich – loslassen?

Was genau darf gehen?

Und was soll bleiben?

Sollen wir die Liebe loslassen?

Das, was uns verbunden hat?

Und wozu – damit es nicht mehr weh tut?

Ich glaube nicht.

Loslassen bedeutet nicht, die Liebe zu beenden. Es heißt, sich von der Vorstellung zu verabschieden, wie diese Liebe einmal war –oder wie sie hätte bleiben sollen.


Wenn eine Demenz in ein Familiensystem tritt, verändert sich alles:

Das Gewohnte, das Verlässliche, die Sicherheiten –sie gehen nach und nach verloren. Und wir haben keinen Einfluss darauf, außer: uns darauf einzulassen.

Wenn wir selbst entscheiden, etwas loszulassen –etwa einen Arbeitsplatz, eine Beziehung, eine Gewohnheit –,dann behalten wir ein Gefühl von Kontrolle. Wir bestimmen Zeitpunkt, Rahmen, Richtung. Dieses Loslassen trägt Spuren von Freiheit und Selbstwirksamkeit.

Ganz anders ist das Loslassen, das uns aufgedrängt wird –durch Krankheit, Verlust, Tod. Da wird uns etwas genommen, ohne dass wir gefragt werden. Wir müssen etwas loslassen, das wir behalten wollten.


Ist das der Kern der Trauer?

Das Ringen zwischen Festhalten und der Erkenntnis, dass das Leben sich verändert hat –ohne unsere Zustimmung.

Darum ist dieses Loslassen so viel schwerer. Weil es kein Wollen, sondern ein Müssen ist. Und das tut zunächst einmal weh.


Jedes Loslassen einer Vorstellung ist ein kleiner Trauerprozess. Wir müssen uns neu orientieren, ohne das alte Bild ganz zu verlieren.

Die Kunst des Trauerns liegt darin, nicht die Liebe loszulassen –sondern die Form, in der sie bisher gelebt wurde.

Denn Liebe selbst vergeht nicht. Sie verändert nur ihre Gestalt. Aus Berührung wird Erinnerung. Aus Gegenwart wird Nähe im Innern. Und manchmal – ganz leise –wird aus Schmerz eine neue Art von Frieden.


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Was brauchen Trauernde?


Trauernde brauchen vor allem eines: Raum

Raum, um traurig zu sein – ohne Erklärung, ohne Rechtfertigung, ohne Zeitdruck. Denn das Schwierigste ist oft nicht der Verlust selbst, sondern das Gefühl, mit der eigenen Traurigkeit fremd zu sein.

Viele Menschen ersetzen Trauer durch andere Gefühle –Wut, Schuld, Erschöpfung. Sie fürchten, die Traurigkeit sei „zu viel“. Aber Traurigkeit kann genauso wenig zu viel sein, wie Liebe. Sie ist die Sprache der Liebe, wenn Worte nicht mehr reichen.

Trauer braucht Mut

Mut, den Schmerz nicht zu umgehen, sondern ihm einen Platz zu geben. Er will nicht beseitigt werden –er will gesehen werden. Sätze wie „Wird schon wieder“ oder „Die Zeit heilt alle Wunden“ nehmen der Trauer ihren Sinn. Denn sie sagen im Grunde: Hör auf zu fühlen. Doch Fühlen ist das Einzige, was heilt.


Trauer braucht Gemeinschaft

Menschen, die nicht gleich trösten, sondern einfach bleiben. Die aushalten, dass es keine Lösung gibt. Dass manchmal das Einzige, was hilft, ein stilles Dasein ist. Wer trauert, braucht keine Antworten –sondern Resonanz. Einen Blick, der sagt: „Ich sehe dich. Und du darfst traurig sein.“


Und Trauer braucht einen inneren Ort. Einen Platz in uns, an dem Schmerz sein darf, ohne dass er alles überflutet. Ein Ort, an dem Erinnerung und Gegenwart nebeneinanderstehen dürfen –ohne Konkurrenz. Wir alle können diesen Ort in uns finden:

An dieser Stelle lade ich dich zu einer kleinen Übung ein. (siehe PDF)



Die Übung mit der inneren Schatulle kann uns helfen, dem Schmerz einen Platz zu geben. Wir wollen ihn nicht wegschließen, sondern halten. Trauer ist nichts, was man einmal „bewältigt“ und dann abschließt. Sie bewegt sich – in Wellen.

Mal sind sie sanft, kaum spürbar –dann wieder hoch und ungestüm, so dass sie uns den Atem nehmen.

Es ist nicht unsere Aufgabe, diese Wellen zu stoppen. Unsere Aufgabe ist, schwimmen zu lernen.

Trauern heißt, weich zu bleiben, wo man hart werden könnte. Offen zu bleiben, wo man sich verschließen möchte.

Wir Menschen dürfen spüren, dass wir uns der Bewegung des Lebens anvertrauen können – dieser Welle, die trägt, auch wenn sie schmerzt.


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Wie trauern Menschen mit Demenz?


Auch Menschen mit Demenz trauern. Sie trauern über Fähigkeiten, die verschwinden. Über Erinnerungen, die sich auflösen. Über Beziehungen, die ihnen entgleiten. Und manchmal trauern sie auch über sich selbst –über das, was sie spüren, aber nicht mehr greifen können.

Doch sie können ihre Trauer oft nicht mehr in Worte fassen.Ihre vertrauten Bewältigungsstrategien greifen nicht mehr. So sind sie dem Gefühl ausgeliefert –und zeigen es auf andere Weise: in Unruhe, im Suchen, im Fragen, im Rückzug.

Wenn jemand mit Demenz sagt: „Ich will nach Hause“ geht es selten um eine Adresse. Es geht um ein verloren gegangenes Gefühl. Um Geborgenheit, Zugehörigkeit, Sicherheit –um ein inneres Zuhause, das verloren gegangen ist, aber tief in ihnen weiterlebt. Sie suchen nach dem, wie sich ein Zuhause früher angefühlt hat.


Für Angehörige ist das doppelt schmerzhaft. Sie erleben denselben Abschied – nur von der anderen Seite. Beide, der Mensch mit Demenz und der Begleitende, verlieren Stück für Stück etwas, das sie einst ganz selbstverständlich verband. Und doch bleibt zwischen ihnen eine zarte Form von Nähe bestehen –eine, die weniger auf Erinnerung beruht als auf Empfindung.

Menschen mit Demenz leben oft stärker im Moment. Sie zeigen uns – ohne es zu wissen –,dass Liebe nicht an Erinnerung gebunden ist, sondern an Gegenwärtigkeit. An Berührung, an Tonfall, an Zuwendung. Wir können wir von ihnen lernen, dass Verbindung nicht endet, wenn das Gedächtnis nachlässt. Dass Liebe bleibt, auch wenn die Sprache versiegt.

Trauer bei Demenz ist wie ein ständiger Tanz zwischen Nähe und Verlust. Sie bittet nicht um Lösung, sondern um Mitgehen. Um ein Herz, das nicht fragt: „Wie lange noch?“ sondern sagt: „Ich bin hier.“


Zusammenfassung


Trauern kann uns dazu bringen, verzeihender, ja zärtlicher mit uns selbst umzugehen. Wir können in der Trauer lernen ehrlicher mit uns zu sein. Das kann auch heissen gut gemeinte Ablenkungsangebote abzulehnen. Den Mut zu haben zu sagen: «Bei mir ist es gerade schwierig. Ich kümmere mich heute um mich selbst»

In jedem Moment, in dem wir den Schmerz nicht verdrängen, sondern durchfühlen, erfährt das Nervensystem:

 „Es tut weh, aber ich bleibe ganz.“

„Ich kann fühlen – und trotzdem leben.“

Das ist existenzielles Lernen. So entsteht Vertrauen als verkörperte Erfahrung, dass das Leben nach dem Verlust weitergeht, auch wenn es anders wird.

Trauer macht uns durchlässiger, weil Trauer Risse in die innere Panzerung schlägt. Wo wir uns  vorher schützten – durch Kontrolle, Funktionieren, Ablenkung – entsteht jetzt Raum. Und durch diesen Raum kann wieder Leben fließen: Begegnung, Berührung, Sinn. Man spürt wieder – nicht nur den Schmerz, sondern alles.

Wir begreifen, dass wir das Leben nicht festhalten können, aber dass wir ihm begegnen dürfen –in seiner ganzen Fülle, mit allem Schmerz und aller Schönheit.

Trauer öffnet das Herz. Sie macht uns weich, wo wir hart werden könnten. Sie lässt uns sagen: „Ja – das Leben ist zerbrechlich. Aber ich bin bereit, es trotzdem zu lieben.“


Manchmal fühlt sie sich Trauer an wie Dunkelheit, aber sie ist der Schatten den das Licht der Liebe wirft.



 

 
 
 

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