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Evidenzbasiert


Seit ich vor mehr als 6 Jahren den medizinisch/pflegerischen Bereich verlassen habe und im Sozialbereich wirken darf, hat sich mein Denken, meine Arbeitsweise, meine Sicht auf die Dinge verändert. Meine Haltung hat eine wohltuende Erweiterung erfahren, mir stehen praktischere Lösungen in meinem persönlichen als auch professionellen Alltag zur Verfügung.

Meine Ausbildungen zur Trainerin für den lösungsorientierten Ansatz und zur systemischen Beraterin haben dieses Gefühl mit Wissen unterlegt und dennoch fällt es mir oft nicht leicht in Worte zu fassen, was den Unterschied ausmacht.


In meiner Wahrnehmung lebt der Gesundheitsbereich in Spitälern und Pflegeheimen heute stark davon, ausschliesslich über Befunde und Diagnosen zu Behandlungsempfehlungen zu gelangen. Evidenzbasiertheit gilt als der Goldstandart, Wirksamkeit ist in Studien nachgewiesen und damit scheint die Sinnhaftigkeit gegeben.


Gleichzeitig unterstützt dieses Vorgehen ein Denken im Ursache-Wirkungsprinzip. Forschung, Ausbildung und Berufspraxis verfolgen diesen Denkansatz. Und er ist wichtig und war in der Vergangenheit nützlich, um Komplexität zu reduzieren und Zusammenhänge zu verstehen.

Dennoch erleben wir alle, in welch einer komplexen Welt wir gerade leben. Lineare Lösungen im Prinzip von Ursache und Wirkung versagen in ihrem Reduktionsbestreben. Ohne Wechselwirkungen und Einflussfaktoren zu berücksichtigen, lassen sich kaum gangbare Wege finden.


Als systemisch Denkende gehe ich davon aus, dass lineare Lösungen in menschlichen, in sozialen Systemen nicht funktionieren. Auch die menschliche Psyche spielt nach anderen Regeln. Deshalb fällt sie in den, von uns geschaffenen Strukturen, besonders auf.


Ich habe im Sozialbereich erfahren, dass aufgrund von Konzepten wie zum Beispiel der Funktionalen Gesundheit, der Evidenzbasiertheit etwas hinzugefügt wird, was im Pflegebereich durch die - für mich absolut nachvollziehbaren - Herausforderungen an der Basis, nicht oder nicht mehr ausreichend gelebt wird. Wenn die Prioritäten knallhart gesetzt werden müssen, weil der Personalmangel das Handeln bestimmt, dann ist es anstrengend , weitere Sichtweisen einzubeziehen, beziehungsweise sich damit auseinanderzusetzen. In Stresssituationen werden Sichtweisen eng.


Wirkliches Verständnis für Verhalten hat sich bei mir erst eingestellt, als ich gelernt habe Wirkungen in und von Systemen zu verstehen, die eine Musterbildung und Wechselwirkungen mit in den Blick nehmen.

Das ist eine sehr wichtige Perspektive in der Familienberatung und in der Teamführung. Zu erforschen und zu erkennen, welche Muster hinter Interaktionen stehen und vor allem darüber hinaus uns zu fragen, was genau diese Muster stabilisiert, trägt wesentlich zum Verständnis und dem Finden von Lösungen bei, die oft mit einer Diagnose oder dem Behandlungsplan wenig zu tun haben und gleichzeitig genau den Unterschied machen, den das System zur Entwicklung braucht.


Auch psychische Prozesse laufen nicht unabhängig ab. Wir wissen heute, welchen grossen Einfluss körperliche Empfindungen haben. Vieles, was bereits vorsprachlich in unserem Körper angelegt wurde beeinflusst unsere Interaktionen. Der körperliche Einfluss auf uns ist oft viel stärker als das, was wir uns durch kognitives Lernen aneignen können.


Wir alle machen uns unser eigenes Welterklärungssystem in dem unsere eigene Sinnhaftigkeit eine Rolle spielt und blenden gleichzeitig aus, dass jeder ein Anderes hat. Ein grosser Teil unserer Erklärungs- und Handlungsprinzipien ist oft schon in der Kultur, in der wir aufwachsen verankert.


Und genauso, wie wir Befunde und Diagnosen in die Begleitung von Menschen mit einbeziehen, dürfen wir berücksichtigen, was auf körperlicher Ebene ungünstige Prozesse stabilisiert und können wir erforschen, wie sich der betroffene Mensch sich seine Welt erklärt. In der Gewaltfreien Kommunikation fragt man sich, welche Bedürfnisse stehen dahinter? Im systemisch-lösungsorientierten Denken fragen wir uns, welche guten Gründe es dafür gibt, dass wir lieber auf das eine oder das andere Erklärungsmuster zurückgreifen?


Die Zeit zu finden für Reflexionen, um psychische und in der Person ablaufende Prozesse eingebettet in körperliche und kulturelle Prozessebenen betrachten zu können, halte ich für genauso wesentlich, wie das evidenzbasierte Denken.

Dieses Gleichgewicht ist es, was meine Begleitung von Menschen erweitert und anders macht.



 
 
 

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