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  • AutorenbildAntje Hirt

Alter und systemisches Denken


In Instagram hatte ich heute morgen gefragt, was das Laufen mit unserem sehr alten Hund und systemisches Denken gemeinsam haben?

Meine Antwort trifft nicht immer nur auf alte Hunde zu, sondern lässt sich auf das Alter allgemein übertragen:

Chicco, so heisst unser Senior auf dem Foto, verlangt von uns eine Musterunterbrechung. Und durch diese Musterunterbrechung müssen wir Menschen das System, in dem wir alle jahrelang gut funktioniert haben, anpassen.


Chicco ist in diesem Monat 16 Jahre alt geworden. Er ist fast blind und fast taub und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dement.


Was ist bei unserem Spaziergang heute Anders?


  • wir brauchen ca. 3x so viel Zeit für eine Strecke

  • wir suchen uns schattige Wege

  • wir laufen eher auf Asphalt

  • wir suchen eindeutige Strecken mit deutlicher Begrenzung

  • wir agieren vorausschauender

  • wir laufen ohne Leine

  • wir laufen mehrmals wieder in die Gegenrichtung

  • unsere Kommunikation ist Klatschen


Hundespaziergänge finden über viele Jahre statt und es gibt ein paar ausgewählte Strecken, die man sehr gerne läuft, ein paar Lieblingsbänke oder Sonnenplätze, an denen man gerne verweilt und Uhrzeiten, die sich einspielen, weil sie gut in den Tagesplan passen. So war das auch bei uns. Ein eingespieltes Muster. Doch plötzlich funktionierte das nicht mehr.


Mit zunehmender Wahrnehmungseinschränkung lief Chicco schlechter an der Leine, als ohne Leine. Er fühlte sich gezogen und wirkte ängstlich, weil er den Bordstein oder andere Hindernisse sehr spät wahrnahm. Lies ich ihn ohne Leine sein Tempo gehen, funktionierte es, weil er die Wege kannte und sich auf sich selbst verlassen konnte.

Was dadurch aber ebenfalls wegfiel war die Kommunikation über die Leine. Ich musste ganz neu lernen ihn zu steuern. Anfangs hörte er lautes Rufen noch. Inzwischen funktioniert Klatschen am Besten. So kann ich ihm zeigen, in welcher Richtung ich mich befinde, wenn er wieder einmal kehrt macht und in die entgegengesetzte Richtung weiterwandert. Eine Garantie, dass er mich hört habe ich nicht. Das bedingt, dass ich den Abstand zwischen uns nicht zu gross lassen werden darf, damit ich ihn noch erreiche, bevor er sich in eine Gefahr begibt.


Da ihm die Steuerung seiner Hinterbeine nicht mehr gut gelingt, bleibt er an Grasbüscheln hängen und strauchelt. Bei leicht abschüssigen Wegrändern kippt sein Hinterteil schon mal um und er rollt in den Graben. Deshalb suche ich mir nun "Hundeautobahnen", also asphaltierte Wege, die deutliche Begrenzungen rechts und links haben, damit er sich selbst orientieren kann. Selbstverständlich sind unsere Strecken kürzer und im Sommer schaue ich mir genau an, wo die Sonne steht und wie ich mich dem Schatten entlang hangeln kann, damit Chicco den Spaziergang möglichst geniessen kann.


Da wir noch einen zweiten Hund haben, ist das Ganze manchmal ein ziemlicher Eiertanz. Ein Hund läuft weit voraus, einer trottet hinterher und Mensch leicht überfordert dazwischen. Abends ist deshalb schon mal das Industriegebiet unser Ziel. Wenn niemand mehr arbeitet gehört die Strasse uns. Denn inzwischen findet Chicco sogar den Gehweg zu schmal und läuft lieber mitten auf der Strasse. Gibt es dann plötzlich ein Loch, wegen einer Baustelle, dann muss ich ihn mit Impulsen oder führen am Halsband daran vorbeilotsen. Unachtsamkeit und Tagträumerei meinerseits könnten für ihn wirklich gefährlich werden.


Es mag ungewöhnlich anmuten, wenn mich Menschen beobachten, die nichts über unsere Geschichte wissen. Vermutlich fragt man sich, ob es nicht schönere Wege, als ein Industriegebiet gibt, um spazieren zu gehen, oder weshalb ich nicht die Leine benutze, damit der Hund nicht mitten auf der Strasse läuft.

Manchmal werde ich darauf angesprochen. Sobald ich das Alter des Hundes erwähne, wird schon vieles automatisch klar.


Nun ist es in der systemischen Arbeit so, dass wir ein unerwünschtes Muster unterbrechen wollen, um zu einem gewünschten zu finden. Für mich ist das Alter unseres Hundes eher eine zunächst mal unerwünschte Musterunterbrechung gewesen. Etwas, was sich einschleicht und geschieht. Plötzlich sind Dinge stressig, die es vorher nicht waren oder funktionieren einfach nicht mehr. Wir und unsere eingespielten Abläufe sind irritiert. Damit wird eine Selbstreflektion angeregt, die uns helfen kann, mit Veränderungen umzugehen. Das ist beim Tier nicht anders, wie bei einem Menschen mit Demenz. Beide lassen sich nicht mehr ändern. Aber wir können uns ändern bzw. Anpassungen am System vornehmen. Das bewahrt uns vor Hilflosigkeit. Wir können aktiv werden.


Für mich war schnell klar, dass ich von meinem alten Tier, welches uns so viele Jahre begleitet und mit Liebe überschüttet hat, auf keinen Fall genervt sein möchte. Es ist mir egal, ob ich früher aufstehen oder barfuss über Asphalt, statt saftige Wiesen laufen muss. Wenn es so für alle Beteiligten funktioniert, machen wir mehr davon. Bis es nicht mehr funktioniert, dann machen wir etwas Anderes.

Es ist eine schöne Erkenntnis, dass ich in meinem Alltag die Zeit finden kann, die wir brauchen. Wie oft haben wir ja den Eindruck, Ruhe und Müssiggang passen nicht in unseren Tag.

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