Selbstkontrolle wurde in unserer Gesellschaft zum König ernannt. Der Verstand als Wächter. Indirekt haben wir gespeichert: Wenn unser unreguliertes Selbst in die Welt fliesst, dann fallen wir unangenehm auf.
Schon als Kind haben wir Lob erfahren, wenn wir nicht störten oder irritierten. Wir haben gelernt, Impulsen nicht zu folgen oder sie ganz zu unterdrücken, aus Rücksicht auf die Gemeinschaft. Später, als Erwachsener, war uns Anerkennung gewiss, wenn wir das soziale Zusammenleben nicht unnötig mit unseren persönlichen Animositäten belastet haben. Je aufgeräumter wir uns gaben, desto harmonisierender wurden wir erlebt und geliebt.
Was ist der Preis?
Um das herauszufinden, können wir uns fragen, was beim Aufräumen oder Ordnung machen passiert. Was uns unpassend erscheint wird in Schubladen oder Schränke gelegt oder gar im Müll entsorgt. Es soll maximal für uns selbst sichtbar sein oder sogar für immer verschwinden. Im Unterbewusstsein ist uns klar, dass nichts von all dem verschwunden ist. Hin und wieder stehen Schranktüren ja offen. Und wenn Schubladen zu voll werden drängt der Inhalt nach draussen. Praktischerweise kann man sie einfach wieder schliessen. Wenn nötig mit Krafteinsatz. Hauptsache Gäste sehen, was sie sehen sollen:
Ein aufgeräumtes Haus. Letztendlich sehen auch wir, was wir sehen wollen: Ein Bild von uns, welches sich sehen lassen kann.
Impulse entstehen aus Bedürfnissen und haben eine enorme Vitalität. Einmal eingesperrt, müssen wir Energie aufbringen, um ihre Bewegungen unter Kontrolle zu halten. Besonders unter Stress, drängen sie ans Licht. Wir üben uns also tagtäglich darin sie zu kontrollieren. Dieses Beherrschen fängt an uns zu belasten.
In unserer Umwelt erhalten wir dafür jedoch Anerkennung. Ein beherrschter Chef ist ein guter Chef, ein beherrschter Partner ist ein guter Partner und eine beherrschte Mutter eine ausnahmslos bewunderte Frau. Deshalb lassen wir ihn weiterhin hochleben, unseren König!
Demenz wird gleichgesetzt mit Kontrollverlust. Offenbar springen uns bei diesem Gedanken sofort unsere unterdrückten Bedürfnisse ins Bewusstsein. Und damit die Angst, dass der Sesam sich öffnet. Unser König ist bedroht. Dem Verstand wird das Steuerrad entrissen. Was nun?
Wir leiden bereits bei der Vorstellung alle irritierenden Impulse könnten aus uns herausbrechen. Wir sind durch unsere Prägungen nicht in der Lage die Ehrlichkeit zu sehen, die sich Bahn bricht. Für uns fühlt sich das Unterdrücken richtig an. Jahrelang geübt. Eingespielt und ein Teil von uns. Die Scham schaut uns über die Schulter und grinst beim Anblick unserer nackten Bedürfnisse.
Wie können wir dem Begegnen?
Langsam wandelt sich die Vorstellung von Menschen mit Demenz. Es gibt jung Betroffene, die uns Einblick geben in ihren Alltag. Schildern sie den Anfang des Vergessens? Für mich ein klares Nein. Was sie schildern sind Herausforderungen in ihrem Alltag. Sie berichten von ihren Strategien damit umzugehen. Sie erzählen von Partnerschaften, die tragen oder auf die Probe gestellt werden. Sie haben Zukunftsvisionen und Ängste. Sie sind derselbe denkende, fühlende Mensch. Ein Mensch, der mit etwas umgehen muss, was ihm gerade in seinem Leben begegnet. Und sie wollen selbst entscheiden, welche Art der Unterstützung die richtige für sie ist. Sie navigieren sich durch die Themen, welche aus ihren Schubladen vor ihre Füsse fallen. Sie erlauben sich zu sagen, ob sie sie bearbeiten, entsorgen oder vorerst zurück in den Schrank schieben wollen. Sie kommen in ihrem Tempo, auf ihrem ganz eigenen Weg zu der Erkenntnis, dass sie sich auch mit ihrer Endlichkeit auseinandersetzen sollten. Ich frage mich nur: Wer von uns sollte das nicht?
Was wir alle tun können, um mit Herausforderungen umzugehen, ist uns selbst aufmerksam zu machen, was sich in unseren Schränken befindet. Den Blick nach Innen zu schärfen. Das ist unbequem. Weil es neu ist. Es fühlt sich unnormal an und die Stimme des Königs ist euch gewiss, der rät, die Schubladen lieber geschlossen zu halten.
Redet mit euerm König. Er gehört zu euch und braucht Mitgefühl. Denn er versucht euch vor allem zu beschützen. Und er braucht einen angemessenen Platz in eurem Leben.
Mein Verstand wird von mir inzwischen regelmässig umarmt und ich danke ihm für seine Schärfe, sein Funktionieren und den guten Willen mich vor Unglück zu bewahren. Ich nenne ihn liebevoll meinen kleinen Prinzen. Er muss kein König mehr sein. Und er kennt seinen Platz. Der ist wunderschön. Auf einem Planeten. Dort hält er sich gern auf und betrachtet seinen Garten mit all den nützlichen Pflänzchen, die er gesät hat. Er verlässt sich darauf, dass ich mich um meinen Schrank kümmere. Das habe ich ihm versprochen. Und er weiss, dass ich ihn rufe, wenn ich ihn brauche.
Durch dieses Üben, entwickelt sich ein neues Normalgefühl. Nicht für alle Herausforderungen brauche ich einen präsenten Verstand. Es gibt andere Stimmen in mir, die hilfreich sind. Ich habe plötzlich eine Wahl. Wen aktiviere ich? Ich entdecke immer neue Helfer. Ich schaffe ihnen wunderschöne Plätze, drücke ihnen Tee in die Hand und freue mich, wenn es ihnen gut geht. Ihre Unterstützung ist mir gewiss. Was ich tun muss, ist sie entdecken und auch, wenn sie mir bei der ersten Begegnung unangenehm oder peinlich erscheinen, als zu mir gehörend zu würdigen. Es ist meine Aufgabe herauszufinden, wozu ich sie nutzen kann. Denn bräuchte ich sie nicht, dann wären sie nicht da. Manche Menschen nennen das Seelenhausaufgaben. Mit diesem Begriff ist nun endgültig auch meine Negativprägung für Hausaufgaben weggefallen. Ich mag Seelenhausaufgaben. Sie bringen mich immer ein Stück näher zu mir. Sie sind niemals langweilig. Sie lassen mich Lebendigkeit fühlen. Weder immer schmerzlich, noch immer beglückend. Meistens sowohl als auch. Lebendig eben. Leben.
Und wenn in einer Demenz irgendwann und langsam mein kleiner Prinz auf seinem Planeten sich weit entfernt, so weiss ich doch, dass er es gut hat. Ich befinde mich in Gesellschaft anderer Anteile, die ganz nah an mich rücken. Wenn ich sie gut behandelt habe, kochen sie mir vielleicht einen Tee oder stellen mir einen Drink vor die Nase. Ich werde nutzen, was da ist und Zugang zu mir findet. Und ich habe meinen eigenen Planeten auf dem ich herumdüse. Eventuell ist es nützlich, wenn mein Schrank nur noch einen reduzierten Inhalt hat. Dann lasse ich ihn zufrieden hinter mir und wende mich anderen Abenteuern zu.
Wie man sich seinem Schrank nähert, seinen König kennenlernt und Seelenhausaufgaben macht, kann man bei mir lernen. Mich amüsiert gerade der Gedanke, wie wohl ein Kurstitel lauten würde, in dem das alles enthalten ist.
Geniesst den Augenblick!
Antje
Mein Seelenbuch mit dem König
Linoldruckvorlage kleiner Prinz
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