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  • AutorenbildAntje Hirt

Macht im Umgang mit Demenz


Jahrelang war das ein Thema, welches bei mir nur als innerer Diskurs stattfand. Im Pflegebereich habe ich nie erlebt, dass darüber offen gesprochen werden konnte. Im Gegenteil. Gab es damit ein Problem, war es schnell Chefsache und durfte nur noch hinter vorgehaltener Hand erwähnt werden. Eine gute Aufarbeitung war so nicht möglich. Die Effizienzgetriebenheit der letzten Jahre hat solche Themen dem Individuum auferlegt. Der Raum für Reflexionen war schnell verschwunden. Der Austausch beschränkte sich auf knappe Informationen. Wer sich nicht kurz fassen konnte galt als unprofessionell. Führungskräften fehlten die Tools für eine gute Auseinandersetzung, Mitarbeiter entwickelten ihre eigenen Strategien, wie sie sich selbst, angesichts der knappen Zeit und der vielen Anforderungen durch den Tag manövrieren. Aber das ist ein anderes Thema.


Über Macht zu schreiben habe ich lange vermieden. Mein Gedankenkonstrukt, welches sich gebildet hatte, klang ungefähr so: "Lass es sein, du wirst nur Kritik ernten" oder "Damit machst du dir keine Freunde". "Ethische Themen in der Öffentlichkeit zu diskutieren geht schief. Corona hat uns das deutlich vor Augen geführt."


Und doch ist Macht ein Thema, was mich besonders triggert. Aufgewachsen im totalitären System der DDR, in dem niemand genau wusste, wer wen beobachtet, aber immer wissend, dass irgendein Handeln Konsequenzen haben würde, hatte ich ein Selbstdisziplinierungssystem verinnerlicht, welches mich viele Jahre daran hinderte, Freiheit wirklich zu leben. Ein selbstauferlegtes inneres Gefängnis. Irgendwann ist es mir gelungen das zu erkennen. Erkennen allein heisst aber noch lange nicht, etwas überwunden zu haben. Es abzulegen war und ist, jedenfalls für mich, harte Arbeit. Was geblieben ist, sind die feinen Antennen für Machtmechanismen.


Ein reflektierter Umgang mit Macht in Betreuungsbeziehungen begegnete mir erst mit meinem Wechsel in den Sozialbereich. In der sozialen Arbeit ist heute klar, dass wir uns niemals in einem komplett machtfreien Raum bewegen können. Professionelle soziale Arbeit erfordert deshalb einen kritischen Umgang mit Machtphänomenen.

Hannah Ahrendt beschreibt in ihrem Buch Macht und Gewalt eine positive Erkenntnis zu Macht. Für sie ist Macht die Fähigkeit von Menschen zusammen zu kommen und gemeinsam zu handeln. Ich durfte lernen, dass Macht weder positiv noch negativ zu bewerten ist. Sie entsteht in sozialen Systemen. Ob sie problematisch ist, hängt von den Regeln ab, davon, wie Ideen und Werte gewählt werden. Und davon wie diese Regeln durchgesetzt werden.


Silvia Staub-Bernasconi unterscheidet in ihrer Betrachtung Begrenzungsmacht und Behinderungsmacht. Erstere soll einen fairen Zugang zu vorhandenen Ressourcen garantieren, Chancengleichheit anstreben. Das macht das aufstellen von Regeln notwendig, welche durchgesetzt und kontrolliert werden müssen. Während die Behinderungsmacht Strukturen unterstützt, die die Befriedigung von Bedürfnissen verhindern und Entwicklungsmöglichkeiten einschränken.


Was das auf der konkreten Interaktionsebene heissen kann, möchte ich an einem erlebten Beispiel verdeutlichen:

Auf unserer Wohngruppe kam es täglich vor, dass Klienten morgens an uns herantraten und fragten, in welchem Raum heute ihre Tagesstruktur stattfindet. Wir gingen dann jeweils an unseren Plan, lasen ab, was die Klienten wissen wollten und informierten sie darüber. Lange war das tägliche Routine.

Bis eine Mitarbeiterin einmal die Frage stellte, warum eigentlich die Information über die Tagesstruktur nur in unserem Büro und nur in schriftlicher Form vorliegen würde? Im Grunde, wären doch dann wir diejenigen, die unsere Klienten daran hindern, sich die Information selbst zu holen und sich dadurch wirksam im eigenen Leben zu fühlen.

Die Erkenntnisse aus dieser Frage lagen so offensichtlich vor uns, dass wir direkt in die Umsetzung der Veränderung gehen konnten. Es war nicht unsere Absicht den Handlungsspielraum einzuschränken und doch war es geschehen. Gemeinsam mit unseren Klienten wurde eine Wochentafel gestaltet. Mit UK-Bildern wurden die Informationen klientengerecht sichtbar gemacht. Für ihre freien Tage, wählten sie einen Stern als Symbol aus. Die Tafel hing in ihrem Wohnbereich und war jederzeit zugänglich.

Das Lesen der Tafel war, für die meisten unserer Klienten, sehr leicht und funktionierte auf Anhieb.

So banal das klingt, war es doch nicht leicht das zu erkennen. Wir waren betriebsblind, weil manche Dinge sich einspielen, nicht hinterfragt werden, weil sie für uns funktionieren.


Machtdynamiken muss man sich zuerst bewusst machen, um sie verändern zu können. Nicht nur die Interaktionsebene, auch die institutionellen Rahmenbedingungen und die Gewichtung der Selbstbestimmung spielen dabei eine grosse Rolle. Wenn verschleiert bleibt, wann Menschen sich über andere stellen, ist Erkenntnis und Veränderung kaum möglich.



Mit einer Demenz verändert sich das Kräfteverhältnis in sozialen Beziehungen. Das ist krankheitsbedingte Realität. Nicht nur in Teams, auch in Familien.

Umso wichtiger ist es, sich nicht nur auf der Alltagsebene zu bewegen, sondern sich immer wieder geplant und bewusst auf die Reflexionsebene zu begeben. Im Alltag müssen wir die Einhaltung der Regeln des Zusammenlebens durchsetzen und bei Übertretungen auch reagieren. Auf der Reflexionsebene fragen wir gezielter wie Entwicklung möglich ist und wie wir Menschen ermutigen und befähigen können sich am Gemeinschaftsleben zu beteiligen oder eigene Entscheidungen zu treffen.

Tun wir das nicht, wird aus der angestrebten partnerschaftlichen Verständigung eine gute gemeinte Bevormundung.

Ein aufgestellter Rahmen gibt Orientierung, Halt und Sicherheit. Meistens aber nur für eine geraume Zeit und oft auch nicht für alle gleichzeitig.


Es lohnt sich immer, folgende Fragen zu stellen:

  1. Wer hat die Regeln aufgestellt? Sind sie veränderbar?

  2. Konnten alle Beteiligten ihre Bedürfnisse mitteilen?

  3. Wenn die Selbstbestimmung nicht gewährleistet ist, mit welcher Begründung wird das legitimiert?

Der Wechsel zwischen Autonomie und Fürsorge, welcher irgendwann im Umgang mit Menschen mit Demenz stattfinden wird und auch muss, ist kein klar benennbarer Zeitpunkt. Es gibt keine pauschale Linie, die überschritten wird und ab dann lassen wir vollumfänglich Fürsorge walten. Es ist ein tägliches gemeinsames Aushandeln und akzeptieren.


Ein ganz entscheidender Punkt im Umgang mit Menschen mit Demenz ist es, dass wir unsere Artikulationsmacht nicht ausnutzen. Allein ein zu schnelles Sprechen oder Überzeugungsbemühungen lassen ein Machtgefälle entstehen, welches wir vermeiden können, indem wir uns dessen bewusst werden und Regeln in der Kommunikation mit Menschen mit Demenz beachten.


Ich durfte die Erfahrung machen, dass Menschen mit Demenz bis zum Ende ihres Lebens Dinge mitentscheiden können. Vorausgesetzt, wir trauen ihnen das zu und schaffen Bedingungen, unter denen sie das, mit ihren vorhandenen Ressourcen auch schaffen.










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