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AutorenbildAntje Hirt

Ich vergesse nicht, dass ich vergesse

Aktualisiert: 26. März 2023


Ich vermute, das wird ein langer Blogartikel. Denn Vorsicht. Ich bin begeistert! Das ist mir schon lange nicht mehr passiert beim Lesen eines Buches über mein Fachthema Demenz. Es gibt inzwischen viele. Und ich habe sehr viele gelesen.

Umso genussvoller die Überraschung dieses Buches:

Ich durfte wieder einmal so richtig in Sprache baden. Das ist hauptsächlich Eveleen zu verdanken. Eveleen ist die Frau, um die es in diesem Buch geht. Ihr Leben lang war Wortgewandheit ihre Stärke. Sie ist Französin mit britisch-irischen Wurzeln, leitete eine Presseagentur in Paris, unterrichtete Englisch und ist Malerin.

Eveleen hat sich immer "anders" gefühlt. Und sie glaubt, dass ihre Mama ihr dieses starke Gefühl von Anderssein mitgegeben hat. Weil sie selbst anders war. Während ihre Mutter das als Makel erlebte, war Eveleen eher stolz darauf:

Ich galt als pfiffig, weil ich zwei Sprachen sprach. Zu Hause wurde grundsätzlich englisch gesprochen, sogar bei Tisch. Meine Eltern sprachen Englisch miteinander. Meiner Mutter war es so lieber, sie fühlte sich unbefangener. Mein Vater wollte ihr einen Gefallen tun. Mit ihm redete ich nur französisch, wenn wir beide allein waren.

Mich nannten sie "die Tochter der Engländerin" . Das machte mir nichts aus. Ausser wenn sich die ganze Klasse empört nach mir umdrehte, wenn in der Geschichtsstunde der fatale Satz fiel: "Jeanne d`Arc wurde von den Engländern bei lebendigem Leibe verbrannt." *

Beim Lesen des Buches habe ich mich mehr als einmal gefragt, ob dieses Gefühl des Andersseins Eveleen geholfen hat, mit ihren Veränderungen umzugehen. Ist Alzheimer dann einfach eine andere Form von Anderssein? Sie sah es wohl so, denn sie sprach das Wort Alzheimer niemals aus. Auch nach ihrer Leugnungsphase nicht. Wenn es sich gar nicht vermeiden lies nannte sie ihre Krankheit Alois:

Ich verirre mich in Flusswindungen, die nicht unbedingt etwas mit Wasser, eher mit Treibsand zu tun haben. Verstehen sie? Irgendwie ist man deprimiert, wenn man an die Krankheit denkt, man mag sich nicht mehr so wie früher.

Welche Demütigung, wenn mir jemand eine einfache Frage stellt und ich nicht antworten kann! Mein Hirn sucht vergeblich, aber ich sage es nicht.

Diese Krankheit ist nicht greifbar. Ein Gedanke, den man vergisst, lässt sich nicht aussprechen, nicht einfangen - genauso wenig wie Schmetterlinge! Es gibt keine körperlichen Symptome wie Husten oder Kopfschmerzen. Man sieht nichts. Es ist wie eine Entgleisung, aber eine, die man bewusst erlebt. Man sieht sich dahintreiben. Man ist ich und eine andere. Es gleicht einer Verdopplung der Persönlichkeit.

Und dieser andere Mensch, der bei Alois lebt, den muss man kennenlernen und zähmen. Er ist ein adoptiertes Kind. Es beginnt ein ständiges Hin und Her. *

Eveleen hat dieses Buch gemeinsam mit der französischen Journalistin Jaqueline Remy geschrieben. Beide gehen durch diesen Prozess, das Auf und Ab. Mit ihrer feinfühligen Begleitung schafft es Remy, den täglichen Einfallsreichtum und die enorme Kraft zu würdigen, mit der Eveleen ihr eigenständiges Leben aufrecht erhält und den Leser dennoch hinter die Kulissen der Veränderungen schauen zu lassen.

Wie Eveleen sie bei ihren Besuchen empfängt beschreibt sie so:

Sie achtet auf ihre Kleidung und hüllt sich in den leichten Stoff mit aufgedruckten Schmetterlingen, der ihr in diesen Zeiten als Flagge dient. Das Poetische, das von ihrer Art sich auszudrücken ausgeht, ist eine Höflichkeit, mit der sie sich entschlossen wappnet, um den Luftlöchern etwas entgegen zu setzen, in denen ihr Denken manchmal ausfranst oder verschwindet, um dann an anderer Stelle wieder aufzutauchen. *

Eveleen kann ihre Welt wunderbar verständlich beschreiben. Obwohl ich schon viele Schilderungen der Wahrnehmung von Betroffenen gehört habe und sich Gemeinsamkeiten entdecken lassen, schaffen es die Worte in diesem Buch, mich dazu anzuregen, einen weiteren Blickwinkel einzunehmen und Eveleens Gedanken mit Leichtigkeit zu folgen. Ihre Beschreibungen der Zusammenarbeit mit verschiedenen Logopäden oder das Empfinden ihrer Teilnahme an der Kunsttherapie in einem Krankenhaus, wenn man sich selbst als Malerin sieht und bereits seit Jahren malt, machen dem Leser bewusst, wie stark ihr Streben nach Autonomie ist. Trotzdem ist sie sich niemals zu schade, sich mit Gegebenheiten zu arrangieren und sich in eine Gruppe Betroffener interessiert einzufügen.

Und dann beendete ich meinen kleinen Vortrag folgendermassen: "Renoir sagte, schwarz sei die Königin der Farben. Ich verwende schwarz nie."

Darauf sprang der Kunsttherapeut an: "Sagen sie das bitte noch einmal"

Ich hatte ihm etwas Neues gesagt. Das interessierte ihn. *

Remy spricht aus, was ich im Umgang mit dem Thema sehr oft erlebe. Die Krankheit wird oft auf den Gedächtnisverlust reduziert. Remy beobachtet bei Eveleen eher eine Gedankenverflechtung, die Eveleen so beschreibt:

Mir ist bewusst, dass ich manchmal Gleise verbinde, die eigentlich parallel nebeneinanderher laufen sollten. *

Was es mit einem geheimnisvollen Koffer auf sich hat und wie sich die Gespräche im Verlauf der Begleitung verändern, weil kleinste Veränderungen des Lebens Eveleen völlig durcheinander bringen, das solltet ihr euch selbst erlesen. Denn es ist ein Vergnügen in dieses Buch einzutauchen. Und dieses Vergnügens möchte ich euch nicht berauben. Im Gegenteil. Ich gönne es euch! Für mich ist es ein Buch, welches Mut macht. Eveleen ist eine Frau, die trotz allen Herausforderungen, die ihr begegnen sehen kann, dass sie Glück hat im Leben. Ist es nicht dieser Gedanke, der unser Leben lebenswert macht?

Tatsächlich hat man bei Eveleen Valadon fast den Eindruck, dass es Bilder regnet. Im Wohnzimmer sind nicht nur die Wände bedeckt, manche Gemälde schweben über unseren Köpfen, sie hängen an Lampen, die ihrerseits an der Decke hängen. Auch der Flur ist mit Bildern geradezu tapeziert, dasselbe gilt für das Schlafzimmer. Eveleens Lieblingsraum ist der, der ihr als Atelier diente und dem sie den Namen "Eifelturmgalerie" gegeben hat, wegen des unverbaubaren Blickes auf das Wahrzeichen von Paris, das am Ende eines Dächermeeres als grafische Silhouette vor dem Horizont aufragt. *

Dieses Buch wird mich begleiten. Es ist eines, welches man immer wieder zur Hand nimmt und immer neue Inspirationen findet. Es enthält unschätzbare Impulse und fördert das Verstehen. Es ist unaufgeregte Literatur. Spannend, aufwühlend, traurig, lehrend und ganz nah dran an dem Leben, welches mich interessiert. Für mich heute ein Grund dankbar zu sein.


* Die kursiven Zeilen im Text, die am Ende mit dem Sternchen gekennzeichnet sind, sind Zitate aus dem Buch: Meine Gedanken Fliegen wie Schmetterlinge von Eveleen Valadon und Jaqueline Remy , erschienen im DIANA - Verlag

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