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  • AutorenbildAntje Hirt

Demenz-Was steht uns zur Verfügung?


Wenn der Verstand, der uns ein Leben lang die Welt erklärt, der uns, mit seiner Einordnung von dem, was um uns herum passiert, Sicherheit gibt, wenn dieser Verstand sich langsam zur Ruhe setzt, dann wird präsent, womit die meisten von uns schlecht umgehen können. Gefühle.

Wir alle sind in einer Welt aufgewachsen, in der es ums "Machen" geht. Wir sind gewöhnt alles zu managen. Schnell vergessen wir dabei, dass die Entwicklung von Gefühlen mit all unserem Beschäftigt sein ständig verhindert wird. Oft wissen wir nicht, wie es uns wirklich geht.

Die Begegnung mit einer Demenz ist deshalb vor allem Eines: Neuland.

Sowohl für den betroffenen Menschen, als auch für seine engen Bezugspersonen oder sein Umfeld. Vielleicht ist das der Grund, dass Demenz uns Angst macht und meistens mit Schwere oder Verlust in Verbindung gebracht wird.

Automatisch fangen wir an zurückzuschauen und sehen alles vor uns, was irgendwann nicht mehr geht. Damit sorgen wir dafür, dass wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen, festhalten wollen, was war.

Dabei liegt Neuland immer in der Zukunft. Wir haben es noch nie betreten und könnten ganz unvoreingenommen schauen, was uns hier, in diesem neuen Land, alles zur Verfügung steht.

Gefühle sind ein grosser Schatz, nicht nur in einer Demenz.

Der Betroffene erlebt an sich eine neue Seite. Er erlebt sich "fühlend". Und seine Angehörigen erleben eine andere, eine neue Seite, die wiederum Gefühle auslöst. Oft hört man dann Sätze wie: "Das ist nicht mehr meine Mutter oder mein Vater". Der Andere fühlt sich fremd an.

Wenn wir solche Gedanken haben ist es wichtig, dass wir einen Schritt zurücktreten und uns klar machen, dass wir nicht mehr neugierig in die neue Welt der Demenz blicken, sondern dass in unserem Kopf eine Bewertung passiert. WIR ordnen das, was wir erleben als Entfremdung ein.


"Nichts, nicht einmal eine Demenz, kann jemanden seiner Persönlichkeit berauben, den Kern unseres Selbst nehmen."


Diesen Satz, sinngemäss übersetzt und wiedergegeben, las ich vor Jahren bei Dr. Daniel Potts (Neurologe). Er hat in mir etwas verändert. Er hat meinen Umgang mit Menschen mit Demenz beeinflusst. Er ändert den Blickwinkel und erinnert mich an mein positives Menschenbild.

Mir ist damals klar geworden, dass das, was wir zu verlieren glauben, nur unsere eigene Vorstellung davon ist, wer eine Person war oder ist. Allein mit dem Gedanken des Verlustes verhindern wir, die Chancen zu sehen. Wir verlieren die Leichtigkeit, die unbeschwerte Herangehensweise.

Mir ist durchaus bewusst, dass es Menschen geben wird, die Worte wie Leichtigkeit und Unbeschwertheit im Zusammenhang mit dem Thema unpassend finden und meine Professionalität anzweifeln werden. Die Erfahrung lehrt mich, dass wir genau das brauchen, um dieses Neuland zu gestalten.


Potts sagt: "Es ist unfair, den Menschen mit Demenz für etwas verantwortlich zu machen, was unser eigenes Ego erschaffen hat."


Damit beschreibt er sehr gut, was ich auf meiner Reise mit Demenz, Teams und Familien immer wieder erkenne. Es ist die Arbeit an uns selbst, die einen gelingenden Umgang damit hervorbringt.

Eigentlich müssen WIR lernen unsere Gefühle zu managen. Eine grosse Rolle dabei spielt das schlechte Gewissen. Wenn es unbearbeitet in einer Betreuungsbeziehung wirkt, dann übertragen sich die Gefühle wechselseitig. Ich kann es gar nicht oft genug betonen. Wenn wir via Verstand immer weniger kommunizieren können, dann kommunizieren automatisch unsere Nervensysteme.


Damit die eigenen Gefühle nicht auf eine Ebene gehoben werden, die wir nicht mehr bearbeiten können, ist es wichtig gut zu trennen. Und wir können lernen auch das zu lieben, was uns Angst macht.


In meiner Arbeit sind Impulse ein sehr wichtiges Instrument. Ihnen zu folgen, ihnen zu vertrauen und Dinge auszuprobieren, das lernen wir im Umgang miteinander. Das verlangt die Offenheit aller Beteiligten das Neuland auch als solches zu betreten und nicht sofort mit eigenen Geschichten zu füllen. Wenn wir den Mut haben uns zu vertrauen und vor allem ehrlich zu sein, kann der Umgang mit Demenz eine erkenntnisreiche und klärende Zeit im eigenen Leben sein.


Die Haltung des Nicht-Wissens prägt viele Annahmen im lösungsorientierten Ansatz. Was könnte passender sein in der Vorstellung Neuland zu betreten? Wenn ich von dieser Haltung ausgehe, wird automatisch der Mensch mit Demenz zum Experten. Er erklärt mir seine Welt. Ich höre zu und beobachte. Es ist nicht nötig zu bewerten.

Sehr oft erlebe ich Situationen mit Aha-Effekten: Aha! So sieht er (der Mensch mit Demenz) das. In diesen Momenten bin ich unvoreingenommen und in diesen Momenten entstehen praktische Lösungen, weil mein Verstand nicht mit meinen Vorstellungen losrennt und Lösungen sucht, sondern mit dem, was der Mensch mit Demenz uns gibt.


Neulich bin ich, beim Suchen in meinem Laptop auf ein Word-Dokument gestossen, welches ich "Wünsche für mein Alter" genannt habe. Ich erinnere mich, dass es einmal entstanden ist nach mehreren verzweifelten Versuchen so etwas wie eine Patientenverfügung zu schreiben. Ich scheiterte immer wieder an dem Gedanken, dass ja das, was ich heute aufschreibe, auch nur für heute gilt und fragte mich, wie ich denn eigentlich wissen soll, was ich in Zukunft wollen werde.


Ich finde die Worte, die ich damals schrieb auch heute noch stimmig. Und ich finde, sie passen zu meinem heutigen Text:


Ich wünsche mir eine Umgebung mit möglichst vielen Menschen, die mit sich selbst im Reinen sind und dies intuitiv auf mich übertragen. Die ein gutes Gespür haben für Selbstsorge und es in vielen gemeinsamen Momenten schaffen mir eine gute Balance anzubieten zwischen Teilhabe am Leben und Fürsorge für meine Gesundheit. Menschen, die Möglichkeiten sehen und Lust haben diesen Lebensabschnitt mit mir zu gestalten. Wie das aussehen wird und wer das sein wird, ist mir nicht möglich aus heutiger Sicht zu beurteilen. Was ich versuche ist, schon heute jeden Lebensaugenblick als zu mir gehörend zu sehen und mich dem Lebensfluss hinzugeben.



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